Text: Christoph Pfluger
Man müsste ein bisschen häufiger über den Röstigraben hüpfen, dann würde man entdecken, dass in der Romandie weniger für die Veränderung gekämpft wird. Stattdessen wird sie gefeiert. Das ist vermutlich wirksamer.
Ein Beispiel dafür ist die «7sky.life Connection» aus Lausanne, die zweimal jährlich zutiefst inspirierende Abende organisiert. Im Format sind sie den TED-Talks nicht unähnlich, aber mit zwei wesentlichen Unterschieden: Die jeweils vier Vorträge von 20 Minuten sind nicht einfach nur schlau, sondern machen Mut und feiern das Leben, das Mitgefühl und die gemeinsame Verantwortung für unseren geliebten blauen Planeten. Und als Intermezzi gibt es Musik und Tanz auf hohem Niveau.
Der letzte Abend vom 7. November im gediegenen Casino de Montbenon stand unter dem Motto «träumen und wagen» und brachte erstaunliche Menschen auf die Bühne, von denen man diesseits des Röstigrabens kaum Ahnung hat.
Marianne Sébastien zum Beispiel vermittelt seit über 40 Jahren zahllosen Menschen mit ihren «freien Stimmen» (voixlibres.org) Mut und Selbstvertrauen, indem sie sie zum Singen bringt. 1,2 Mio. Kinder, vor allem in Bolivien, haben dank «voix libres» ein besseres Leben. Ihre Hilfsprojekte haben über zehntausend Kindern in Ländern des Südens eine Schulbildung ermöglicht, allein 2016. Hunderte von Frauen sind erfolgreich in die Selbständigkeit gestartet, über ein Dutzend kooperative Firmen entstanden. Voix libres steht auf Platz 58 der weltweit besten NGOs, Marianne Sébastien hat 2017 den int. Menschenrechtspreis erhalten – in der Deutschschweiz ist sie praktisch unbekannt.
Ein faszinierender Mensch ist auch Isabelle Alexandrine Bourgeois. Nach ihrem Abschluss in politischen Wissenschaften war sie als Delegierte des IKRK unterwegs und stieg in den Journalismus ein. Sie berichtete für Fernsehen, Radio und Presse der Romandie aus aller Welt, nicht zuletzt aus Krisengebieten. Inmitten der Gräuel erlebte sie auch immer wieder humane Gesinnung: ein junger Iraker, der sich zur Verhinderung eines Anschlags einem mit Sprengstoff beladenen Lastwagen in den Weg stellte oder ein amerikanischer GI, der seine Waffen niederlegte, um Kinder aus einem brennenden Haus zu retten. Als die Redaktionen in der Schweiz diese Geschichten der Menschlichkeit als uninteressant ablehnten, erlebte Isabelle Bourgeois ihren grossen Wendepunkt. Sie ist mittlerweile überzeugt, dass die Massenmedien die Welt viel schlechter darstellen als sie ist und damit unser Bewusstsein manipulieren, unsere Lebenskraft lähmen und die Verbindungen zwischen den Menschen belasten.
Sie kaufte sich ein Wohnmobil, machte sich auf die «route de joie» durch Europa und berichtete in Hunderten Blogbeiträgen und vielen Videos von den erstaunlichen Heldinnen und Heldes des Alltags, denen sie begegnete. Diese Menschen sind wunderbare Vorbilder der Menschlichkeit. Aber als Beispiele für die positiven Kräfte des Menschen können sie nur wirken, wenn die Medien auch über sie berichten.
Isabelle Alexandrine Bourgeois erhielt mehrere Preise für ihre Arbeit – auf der deutschen Seite des Röstigrabens ist sie praktisch unbekannt. Französisch, immerhin eine Sprache von Landsleuten, wird halt nur ungern gelernt und fast nicht mehr gesprochen. Im Januar erscheinen unter dem Titel «La route de la joie» ein Buch und ein Film über ihre Arbeit und ihre ansteckende Lebensfreude. https://joyfortheplanet.org
Ein Leuchtturm der Menschlichkeit ist schliesslich Claudio Alessi aus Genf, mehrfacher Karate-Weltmeister und Trainer der Nationalmannschaft. Mit der von ihm mitgegründeten Institution «no difference» bildete er bis heute 180 Behinderte in Kampfkünsten aus und vermittelte ihnen ein ganz neues Selbstbewusstsein. Die erstaunlichste Leistung gelang ihm mit einem Tetraplegiker, der weder Arme noch Beine bewegen konnte. Er war zunächst ratlos. Dann machte er ihm während dreier Jahre die grundlegenden Karate-Bewegungen vor, und das Wunder geschah: Er lernte, Arme und Beine wieder zu bewegen, wenn auch mit grosser Einschränkung. http://www.no-difference.org
Höhepunkt des Abends war der Auftritt der Sängerin und Komponistin Kimka. Sie wurde 1987 als Tochter einer Libanesin und eines Schweizer geboren und leidet an einer angeborenen Muskelkrankheit, die den Gebrauch ihrer Glieder mittlerweile verunmöglicht. Seit dem Alter von fünf Jahren singt sie. Ihre Karriere begann sie im Alter von 18 Jahren mit dem programmatischen Titel «Quand on veut, on peut» – wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Mit einem solchen Satz ist man schnell einverstanden. Aber wenn man sich vorstellt, wie viel Hingabe ein Schicksal wie dasjenige von Kimka erfordert und wie einfach wir Nicht-Behinderte unser Leben gestalten, dann wird klar, wie unendlich viel wir von Menschen wie Kimka lernen können. Dies wird wohl auch nötig sein, wenn wir das Schicksal der Erde zum Guten wenden wollen. www.kimka.ch
Deutschschweizer Gutmenschen und ökosozial Engagierte würden einen solchen Abend vielleicht als etwas nett und unpolitisch taxieren. Aber das greift zu kurz. Die Lebensfreude und die Herzkräfte sind ein hervorragendes Transportmittel für die grundlegende Veränderung, die unser Planet braucht – davon ist die Coco Tache, die Organisatorin von 7sky.life überzeugt. Wer mithelfen will, die kritische Masse zu erreichen, soll am 4. Juni eine kleine Reise nach Lausanne machen und sich am nächsten Anlass von 7sky.life ein bisschen anstecken lassen. Jenseits des Röstigrabens gibt es einiges zu entdecken.
Die Website erzählt auf französisch, englisch und deutsch Mutmacher-Geschichten und vernetzt mit Projekten der Veränderung.