„Kinder müssen lernen, zu folgen.“ Eine oftmalige Annahme von Eltern, die glauben, erzieherischen Druck ausüben zu müssen. Dabei wissen sie meist nicht, wie schädlich Strafmaßnahmen für die jungen Menschen sind. Autorin, Bloggerin und Schulleiterin Aida S. de Rodriguez klärt im Interview mit News.at auf, was Strafen wirklich auslösen und wie ohne sie eine Beziehung auf Augenhöhe funktionieren kann.
News.at: Ihr Buch heißt „Es geht auch ohne Strafen.“ Gehören Strafen nicht irgendwie zum Erwachsen werden dazu?
Aida S. de Rodriguez: Kinder brauchen keine Strafen zum Erwachsen werden. Strafen schaden immer. Was Kinder brauchen, sind Erwachsene, die sie ernst nehmen und ihnen gewaltfreie, beziehungsorientierte Konfliktlösungsstrategien vorleben. Kinder brauchen Schutz vor Machtmissbrauch und genau das sind Strafen.
Warum sind Strafen so schlecht, was lösen Strafen in Kindern aus?
Strafen basieren auf Angst und schaffen Distanz. Sie sind beschämend und entwürdigend. Strafen sind daneben nicht zielführend und ihre Auswirkungen nicht kontrollierbar. Kinder, die bestraft werden, fühlen sich mit ihren Bedürfnissen und der eigenen Überforderung allein gelassen. Das erzeugt Wut, Ohnmacht, Frustration und Angst. Sie verlieren das Vertrauen in ihre Eltern und letztlich in sich selbst.
Ist schimpfen in Ihrem Konzept auch „nicht erlaubt“?
Auf Strafen zu verzichten und junge Menschen auf Augenhöhe zu begleiten, ist kein Konzept. Es ist vielmehr die Konsequenz daraus, Kinder als Menschen anzuerkennen und sie demnach in ihrer Würde zu respektieren. Die Frage ist also, ob es in Ordnung ist, mit Menschen zu schimpfen.
Die Erfahrung zeigt, dass diese Strategie wenig zielführend ist. Sie trägt nicht zur Problemlösung bei, beschämt mein Gegenüber und schadet letztlich unserer Beziehung. Im Grunde ist „schimpfen“ nichts anderes als eine Strafe.
Damit ist jedoch nicht gemeint, dass wir unseren Kindern keine Resonanz geben oder sie nicht aufklären sollen über sozial inadäquate Verhaltensweisen etwa. Schimpfen ist allerdings vielmehr das Ergebnis fehlender Impulskontrolle auf Seiten der Erwachsenen sowie falschverstandene Loyalität gegenüber Dritten.
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Sie raten auch vom Belohnen ab. Was ist daran schlecht?
Strafen und Belohnungen sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie üben Kontrolle auf das Kind aus. Kinder sollen gehorchen. Was sie fühlen oder brauchen bleibt dabei ungesehen. Verhält sich das Kind so wie erwünscht, wird es belohnt. „Tue, was ich will und ich tue dir was Gutes“ ist hier die höchst gefährliche Botschaft. In beiden Fällen geht es um Folgsamkeit und dies ist kein gutes Ziel, denn das Kind lernt sich anzupassen und blind zu folgen; das zu tun, was andere von ihm verlangen und für richtig halten, ohne dies zu hinterfragen. Aber das Kind lernt dabei weder empathisch zu sein noch Konflikte respektvoll zu lösen.
Sie raten, eine Streitkultur etablieren. Wie kann das konkret aussehen, gerade auch bei kleinen Kindern?
Konflikte gehören zum Leben dazu, jedoch sind die Mehrzahl der Konflikte mit kleinen Kindern unnötig, das Ergebnis von Adultismus (Anm.: Diskriminierung von Kindern auf Grundlage des natürlichen Ungleichgewichts), überhöhter Erwartungen und unserer fehlenden Geduld. Wir neigen dazu, Dinge von Kindern abzuverlangen und zu erwarten, wozu sie schlicht noch nicht in der Lage sind und unterschätzen wiederum bei Sachen, die sie eigentlich können, ihre Kompetenzen und limitieren sie. Wir erwarten beispielweise oft ein hohes Maß an Impulskontrolle, sind aber selbst selten dazu in der Lage uns zu beherrschen und schreien unsere Kinder an. Hierbei verpassen wir die Chance unseren Kindern einen respektvollen und empathischen Umgang miteinander vorzuleben.
Bei einem respektvollen Umgang mit Kindern berücksichtigen Erwachsene nämlich aufgrund ihrer Erfahrung und Reife die kognitiven, emotionalen und motorischen Fähigkeiten des Kindes und nehmen darauf Rücksicht und missbrauchen nicht ihre Macht.
Natürlich müssen Kinder erfahren, wann ihre Strategie mit Frustration umzugehen, die Integrität anderer verletzt. Bei sehr jungen Kindern bedeutet dies aber vor allem eine enge Begleitung zum Schutz Dritter, beispielsweise ein Verbalisieren der Handlung sowie das Aufzeigen von Alternativen.
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Ein häufiges Konfliktthema ist etwa das Zähneputzen. Das Kind will nicht und wird dann irgendwie (oft durch „Erpressung“) dazu gezwungen. Wie könnte das anders funktionieren, wenn nicht Zähne putzen für die Eltern aber keine Option ist?
Eltern müssen gewaltfreie Wege finden, um die Zahngesundheit ihrer Kinder zu gewährleisten. Dazu gehört selbstverständlich auch die Fähigkeit „outside the box“ zu denken. Vor allem aber braucht es die Bereitschaft, seinem Kind Zeit zu schenken und Zahngesundheit nicht als lästiges Pflichtprogramm, sondern als Beziehungsarbeit zu verstehen. Ob es das kreative Spielchen oder schlicht die Verlagerung des Ortes des Geschehens ist, sei jeder Familie selbst überlassen. Es ist nicht nötig, das Zähneputzen an sich in Frage zu stellen, aber ich kann dem Kind dabei eben Gestaltungsspielraum lassen.
Ich kann natürlich gut verstehen, dass Eltern mal die Puste ausgeht und sie sich manchmal wünschen, dass bestimmte Dinge einfach funktionieren mögen. Die Realität ist aber manchmal eine andere. Kinder sind, wie wir auch, Menschen und funktionieren eben nicht. Dann hilft es eben, auch einfach mal den Druck heraus zu nehmen.
Übrigens wird auch oft die Wichtigkeit unterschätzt, unseren Kindern Vorbild zu sein. Viele Eltern putzen sich die Zähne bevor die Kinder wach und nachdem sie wieder im Bett sind. Dabei ahmen Kinder ihre Eltern gerne nach.
Ein anderes Beispiel: Kinder loten gerne ihre Grenzen aus. Trotz vieler Erklärungen der Eltern tun sie oftmals immer wieder dasselbe, obwohl sie es nicht sollen – unter anderem auch weil es gefährlich ist oder Dinge kaputt werden können. Was könnte dafür eine Lösung sein?
Kinder loten keine Grenzen aus. Sie leben und lernen ihre Welt dabei kennen. Jesper Juul sagte hierzu einmal: „Kinder suchen keine Grenzen, sondern ihre Eltern.“ Kinder brauchen Verbindung und gehen stets dahin, wo die Gefühle sind.
Es ist ein hartnäckiges Missverständnis, dass es bei einer Begleitung auf Augenhöhe um „gutes Zureden“ geht. Gerade kleine Kinder können unsere langen Erklärungen gar nicht wirklich erfassen. Umso jünger mein Kind, desto mehr sollte ich auf eine vorbereitete Umgebung achten, desto enger muss ich es im Alltag begleiten. Und statt zuviel zu erklären oder gar zu schimpfen, sollten wir uns fragen, was unser Kind, unabhängig vom Alter, daran hindert zu kooperieren und wie wir es darin unterstützen können.
Wenn Kinder also gar keine Grenzen ausloten, sondern nur dahin gehen, wo Gefühle sind: Hat das Setzen von Grenzen dann überhaupt einen Sinn?
Wenn Kinder ihre Welt erkunden, übertreten sie manchmal unbewusst Grenzen oder aber sie wählen Strategien zur Konfliktbewältigung und zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse, die die Integrität anderer verletzen können. Kinder übertreten Grenzen eben nicht aus Spaß, sondern weil ihnen aufgrund fehlender Reife und Erfahrung Alternativen fehlen, sie überfordert sind und sich ohnmächtig fühlen oder sich dessen schlicht nicht bewusst waren. Unsere Aufgabe besteht darin, Alternativen vorzuleben, vorhandene Grenzen sichtbar zu machen, andere bei Bedarf zu schützen und vor allem auch unsere Kinder bei Frust und Überforderung zu begleiten. Und das bedeutet nachhaltige Auseinandersetzung mit Ursachen statt bloße verhaltenstheoretische Symptombekämpfung.
Wenn Sie zur Ursachenforschung statt Symptombekämpfung raten, stimmen wohl viele zu. Doch gerade in einer Akutsituation, zum Beispiel Kind schlägt anderes Kind am Spielplatz, ist da nicht die Erwartung etwa der Eltern des geschlagenen Kindes, sehr hoch, dass der/die „SchlägerIn“ bestraft oder geschimpft wird – also zunächst doch eine Symptombekämpfung?
Es ist gut möglich, dass andere Menschen solche Erwartungen haben. Doch für die Qualität der Beziehung zu meinem Kind und für dessen Wohl bin ich verantwortlich. Andere Eltern erwarten zurecht, dass wir unser schlagendes Kind gut begleiten und dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder unversehrt bleiben. Das gelingt jedoch nicht immer, schließlich sind unsere Kinder eigenständige Individuen und ihr Verhalten mitunter unvorhersehbar. Kommt es zu einer solchen Situation, ist es wichtig, dass wir zum Schutz des anderen Kindes eingreifen. Dies bedingt jedoch nicht, das eigene Kind zu diskreditieren oder zu beschämen. Kleinkinder auf Spielplätzen schlagen selten aus Überzeugung, sondern aus Überforderung und zu Kommunikationszwecken. Wir hingegen können uns sehr bewusst damit auseinandersetzen und entscheiden, welchen Weg wir in der Begleitung unserer Kinder einschlagen wollen.
Bereitet eine Erziehung ohne Strafen Kinder auf die Zukunft vor? Spätestens als Erwachsener drohen Strafen, wenn man sich nicht an Regeln hält.
Ich muss Kindern kein Leid zufügen, um sie für das „echte Leben“ vorzubereiten. Ganz im Gegenteil. Dies schadet ihrer Widerstandsfähigkeit und schwächt sie für das Leben nachhaltig.
Sie schreiben, wir haben viele „verinnerlichte Glaubenssätze, die unser Bild von Kindern, von einer vermeintlich adäquaten Erwachsenen-Kind-Beziehung sowie von uns selbst prägen“. Wie kann man diese eingebrannten Glaubenssätze wieder ablegen? Kann das überhaupt klappen?
Unsere Erziehung und Sozialisierung prägen unser Bild von Kindern und auch von einem adäquaten Umgang mit ihnen. Wir haben in der Regel keine alternativen Vorbilder und wenig Erfahrungen mit einem zugewandten, empathischen und respektvollen Umgang. Letztlich wissen wir nicht einmal, wie Kinder sind, wenn sie eben nicht zum Gehorchen geformt wurden und sind zunächst ziemlich über ihr Verhalten irritiert.
Bewusstsein ist immer der erste Schritt, um anerzogene Glaubenssätze wieder abzulegen. Wir können uns jederzeit für Respekt, Augenhöhe, Empathie, Liebe und somit Beziehung entscheiden. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dies kann mitunter natürlich sehr schmerzvoll sein. Der Weg zu einer neuen Selbstverständlichkeit im Umgang mit Kindern ist somit eine höchstpersönliche Reise, aber immer möglich.
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Zur Autorin: Aida S. de Rodriguez ist eine der beiden Gründerinnen der APEGO-Schule in Berlin, die komplett ohne Straf- und Belohnungssysteme auskommt. Mit ihrem gemeinnützigen Verein Madrina Sophia e. V. setzt sie sich in Deutschland und Lateinamerika für das Recht von Kindern auf ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Aufwachsen ein. Sie bloggt erfolgreich auf elternmorphose.de und administriert seit mehreren Jahren die Gruppe „unerzogen“ auf Facebook. Sie ist Coach und Trainerin für interkulturelle Kompetenzen sowie als Beraterin für Veränderungsprozesse eine gefragte Expertin. Sie ist Mutter von drei Kindern.
Aida S. de Rodriguez zum Schulalltag in der von ihr mitbegründeten APEGO-Schule , die komplett ohne Straf- und Belohnungssysteme auskommt:
„Im Rahmen einer selbstbestimmten Bildung entscheiden die Lernenden selbst, ob, wann, was, wie, womit und mit wem sie lernen. Die Lernenden haben die Möglichkeit, die Dinge, die sie unmittelbar betreffen, mitzugestalten und zu entscheiden, so auch die Mehrheit der Regeln des Zusammenlebens. Konflikte versuchen wir auf Augenhöhe zu lösen und zu begleiten. Konkret heißt das: Wenn Menschen, ob jung oder alt, sich nicht an gemeinsame Regeln halten können, dann gibt es dafür zumindest einen guten Grund. Wir versuchen entsprechend herauszufinden, was das Kind beschäftigt sowie was ihm fehlt und wie wir es besser unterstützen können. Wir sprechen dazu vor allem mit dem Kind, ziehen aber auch bei Bedarf die Eltern in dem Prozess mit ein. Weniger im Sinne von „Sorgen sie dafür, dass sich ihr Kind hier in der Schule benimmt“, sondern im Sinne von „Lasst uns gemeinsam nach Ursachen und schließlich nach Lösungen zu seiner Unterstützung suchen“. Die Basis hierfür ist das gegenseitige Vertrauen darin, dass eine wohlwollende Haltung zum Kind besteht.
Quelle: www.news.at