Von Josef Studerus
(nach einer Erzählung von Anastasia aus der Wedrussischen Epoche (Band 8/1)
Heuernte in einem Wedrussischen Dorf.
Eine Gruppe junger Männer führt ihre von Pferden gezogenen Heumieten in Richtung Dorf.
Einige Kinder unterbrechen ihr Spiel am Waldrand, rennen auf die Pferde zu und werfen sich auf die Mieten, um ein Stück mitzufahren. Das letzte Kind, ein vierjähriges Mädchen, benutzt eine Abkürzung über eine sumpfige Stelle, um die Mitfahrgelegenheit nicht zu verpassen. Dabei rutscht sie aus und landet in einer Pfütze. Das Knie ist zerkratzt und das Gesicht und das ganze Kleid sind vom Schmutzwasser besudelt.
So laut sie nur kann, heult die Kleine los. Der letzte der Pferdeführer, der achtjährige Radomir, stoppt sein Pferd, kehrt um und zieht das schreiende Mädchen aus dem Wasserloch.
„Hör mal Kleine“, so fragt er sie, „was weinst du denn so bittere Tränen?“
„Alle Kinder sind schon auf ihren Heumieten unterwegs,“ schluchzt sie, „und ich sitze hier alleine in der Pfütze!“
„Nicht alle sind fort“, antwortet Radomir. „Schau doch, ich bin mit meinem Pferd hiergeblieben. Wenn du mit dem Weinen aufhörst, kann ich dich gerne mitnehmen.“ Er sucht eine trockene Stoffstelle am Kleidzipfel der Kleinen, hält den Stoff an ihre Nase und sagt streng: „Los, putz dir erst einmal die Nase, du kleiner Krümel!“
Vor lauter Überraschung brachte das Mädchen nur ein „Oh“ hervor.
Darauf reinigte Radomir notdürftig Kleidchen und Mädchen und half ihm dann, auf die Heumiete zu klettern. Er packte das Pferd an den Zügeln, und sie zogen los in Richtung des Heuschobers.
Das kleine Mädchen sass in seinem nassen Kleidchen auf der Heumiete und frohlockte. Es sass hier alleine, nicht wie die andern zu zweit oder zu dritt. Ihr Gesicht strahte so viel Glück aus, als ob sie gerade erst zur Göttin erklärt worden wäre. – Ach, wenn das ihre Freundinnen sehen könnten! Er fährt sie ganz alleine…. Sie schaute Radomir zu, wie er das Pferd an den Zügeln führte und konnte sich vom Anblick seines Rückens nicht losreissen. Ihr Kinderherz schlug plötzlich schneller. Im ganzen Körper verteilte sich Wärme. – Natürlich konnte das kleine Mädchen eine Tatsache nicht verstehen: Es hatte sich verliebt.
Ach ja, Kinderliebe – das ist die reinste Liebe überhaupt. Sie ist ein Geschenk Gottes. Doch warum kommt sie manchmal so früh und beunruhigt die Herzen der Kinder? Warum? Welcher Sinn verbirgt sich hinter dieser frühen Liebe? – Nun, wie es sich herausstellt, hat die Liebe in diesem frühen Stadium des Lebens durchaus einen tiefen Sinn – und dieser Sinn war den Wedrussen bekannt.
Als Radomir den Heuschober erreicht hatte, sprach er die Kleine an: „Los, komm herunter, ich werde dich auffangen.“ Als er sie auf der Erde abgesetzt hatte, fragte er: „Welcher Familie gehörst du an?“ „Ich komme aus der Nachbarsiedlung und heisse Ljubomila“, antwortete sie.
„Dann kehr jetzt in dein Dorf zurück“, rief Radomir ihr im Weggehen hinterher und drehte sich nicht mehr nach ihr um.
Das kleine Mädchen aber blieb noch eine ganze Weile da, schaute zu, wie Radomir die Zügel löste, auf sein Pferd sprang und im Galopp davon ritt, um eine neue Heumiete zu holen.
Zuhause versammelte sich eben die ganze Familie zum Abendessen, aber Ljubomila hatte keine Lust, schmiegte sich an ihre Oma und bat: „Komm mit mir in den Garten, Omi. Ich will nur dir allein erzählen, was mir heute geschehen ist.“
Ihr Vater widersprach: „Es gehört sich nicht, vom Tisch wegzugehen.“ – Doch da blickte er seiner Tochter ins Gesicht und schmunzelte. Den Wedrussen waren die Gefühle der Kinderliebe gut bekannt. Sie verstanden es, die Liebe freundlich zu behandeln, sie wie ein Geschenk des Himmels in die Familie aufzunehmen, sich nicht über die junge Liebe lustig zu machen und sie zu ehren. Sie wussten die Wonne dieser grossartigen Energie zu schätzen.
Auf einer Bank in der hintersten Ecke des Gartens begann Ljubomila aufgeregt zu erzählen. Bald aber unterbrach sie ihre Oma: „Mir dir ist etwas passiert, mein Enkeltöchterchen, Wie heisst er denn?“ Überrascht entgegnete das Mädchen: „Das weiss ich nicht. Er hat mir nichts über sich erzählt. – Er hat mein Kleidchen gewaschen. Dann nahm er mich ein Stück auf seiner Heumiete mit und sagte mir schliesslich nicht einmal seinen Namen. „Kleiner Krümel“ nannte er mich, und als er weg ging, hat er sich nicht ein einziges Mal nach mir umgedreht!“ – Unter Tränen fuhr sie fort: „Ich stand noch lange da und schaute zu, wie er wegritt. Doch er schaute mich nicht mehr an. Und so erfuhr ich nicht einmal seinen Namen!“
Die Oma drückte das schluchzende Kind fest an sich und flüsterte ganz leise, wie ein Gebet: „O wunderbare Energie Gottes – möge deine Wonne meiner Enkelin helfen. Bitte verbrenne nicht ihr noch schwaches Herzchen und ermutige sie zu Handlungen der Schöpfung!“
Dann fügte sie laut hinzu: „Möchtest du, dass jener besonders gutmütige junge Bursche in Zukunft nur noch allein dich anschaut?“
„Ja, Omi, das will ich, ganz sicher will ich das!“
„Dann schau zu, dass du ihm in den nächsten drei Jahren nicht begegnest!“
„Warum?“
„Er hat dich als ein schmutziges Mädchen gesehen, als ein heulendes, schmutziges Stück Elend. Dieses Bild von dir hat sich in ihm festgesetzt. In drei Jahren wirst du älter sein, und – wenn du dich anstrengst – schöner und klüger.“
„Ich werde alles, alles dafür tun. Erzähle mir, Omi, was ich tun muss!“
Langsam und feierlich sprach Oma die nächsten Worte aus und weihte ihre Enkelin in das Geheimnis ein: „Wälze dich am Morgen nicht mehr so lange im Bett, sondern steh rasch auf, renne zum Bach und wasche dich mit frischem Quellwasser. Nachher iss ein ordentliches Frühstück……“
„Aber Omi, warum soll ich mich so abmühen, wenn er mich dabei gar nicht sieht!“ – „Das wird er sicherlich nicht sehen, aber all deine Bemühungen werden sich schliesslich in deiner Schönheit spiegeln. Und ausserdem bekommst du dadurch viel neue innerliche Energie.“ *
Ljubomila bemühte sich, die Ratschläge ihrer Grossmutter zu befolgen. Dies gelang ihr zwar nicht immer, aber nach fast drei Jahren hatte sie sich an ihren vorgenommenen Tagesablauf gewöhnt.
Eines Tages hielt ein Wagen voller Leute vor ihrem Familienlandsitz. Ljubomila trat mit ihrer Schwester Katharina vor das Haus – und erkannte sofort einen der jungen Burschen: Es war Radomir! – Der älteste der Wageninsassen, wahrscheinlich der Vater, bat um Wasser, da sie ihren Kanister daheim vergessen hätten. Hals über Kopf stürzte Ljubomila ins Haus und kam mit einem Krug Wasser zurück. Während der Vater trank, konnte sie ihre Augen nicht von Radomir abwenden.
Doch dieser betrachtete ihre Schwester Katharina.
Als Radomir an der Reihe war, trank er das restliche Wasser aus, sprang vom Wagen und überreichte den leeren Krug Katharina mit den Worten: „Danke, schöne Frau und auf Wiedersehen!“
Ljubomila schaute dem Wagen lange nach. Dann schlich sie traurig in die hinterste Ecke des Gartens und heulte los.
Ihre Oma hörte sie und setzte sich neben sie. „Wieso bist du so traurig, Kind?“
Unter Tränen erzählte Ljubomila, was vorgefallen war. „Katharina hat nur irgendetwas mit ihm geredet, aber ich habe das Wasser geholt. Und den leeren Krug hat er nicht mir, sondern Katharina zurückgegeben. Meine liebe Schwester, diese Bohnenstange, sät Zwietracht zwischen uns!“
„Warum bist du auf deine Schwester so böse? Es ist nicht ihre, sondern deine Schuld, dass alles so gekommen ist.“
„Wieso meine Schuld? Was habe ich falsch gemacht, Omi?“
„Höre mir aufmerksam zu. Deine Schwester hat an den Ärmeln ihres Kleides sehr schöne farbige Muster gestickt. Hingegen sind deine Muster auf deinem Kleid ziemlich krumm geraten. Ausserdem kann Katharina in Reimen reden. Sie ist auch beim Singen die Beste. Du wiederum möchtest mit den Zauberern, bei denen man Lesen und Dichten lernen kann, nichts zu tun haben. – Dein Auserwählter ist wahrscheinlich ein gescheiter Bub, der Schönheit und Klugheit zu würdigen weiss.“
„Soll ich mich nun weitere drei Jahre mit Lernen herumplagen, Oma?“
„Vielleicht drei, vielleicht aber auch fünf.“
*
Weitere zehn Jahre gingen ins Land. Da besuchte Radomir mit seinem Freund Argo einen Bazar in seinem Dorf. Vor einem Kleiderstand blieben sie stehen, weil ihnen ein ganz besonderes Hemd in die Augen stach. Es war – im Gegensatz zu den üblichen Hemden aus grobem Leinen – aus einem glatten Stoff genäht und mit einem nie gesehenen Muster verziert, welches wahrscheinlich einen tieferen Sinn in sich barg. Noch schöner als das Hemd jedoch war die junge Frau, die eben aus dem Verkaufsladen trat: eng geflochtener, hellbrauner Zopf, himmelblaue Augen, markante Bögen der Augenbrauen und Lippen, die ein wunderschönes Lächeln erahnen liessen. Ihre Bewegungen waren leicht und fliessend, als seien sie von irgendeiner Energie durchdrungen. Es war unmöglich, sich vom Anblick dieser jungen Frau sofort wieder loszureissen.
„So zart, wie sie aussieht, hat sie doch eine scharfe Zunge, und ausserdem kann sie in Reimen und Sprichwörtern reden“, hörten die Beiden von einem andern jungen Burschen, der schon länger bei dem Wagen gestanden hatte. – Als sie ihren Blick kurz auf Radomir verweilen liess, schmolz er vor Wonne förmlich dahin. Er brachte kein Wort heraus, aber sein Freund Arga fragte sie forsch: „Welchen Preis verlangst du für dein Werk?“
„Wie hoch der Preis ist? – Gut, ich werde es euch so erklären,“fuhr die Schönheit fort: „Ich kann diese Hemd nur einem gutherzigen Menschen, einem kühnen kräftigen jungen Mann geben – auch kostenlos! Als Erinnerung würde ich mir von ihm irgendeine Kleinigkeit wünschen, ein junges Pferdchen , zum Beispiel.“
„So, so, schöne Frau! Das war aber eine wirklich würdige Antwort, du Meisterin des Wortes! – Ein Pferdchen, nur eine Kleinigkeit,“ so tönten Zwischenrufe von den Umstehenden. „Hört, hört! Sie ist nicht nur schön, sie scheint auch nicht auf den Kopf gefallen zu sein.“
Arga war in der Zwischenzeit verschwunden und erschien nun wieder mit einem temperamentvollen, noch nicht zugerittenen jungen Hengst, den er kürzlich von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Er näherte sich dem Wagen und sprach: „Ich tausche dieses Pferd gern gegen das Hemd, das du genäht hast.“ – „Danke,“ antwortete die junge Frau gelassen. „Aber ich sagte ja bereits, dass dieses Hemd nicht zu verkaufen ist. Ich kann es lediglich verschenken – dir – oder vielleicht einem andern jungen Mann.“
„Hast du nun den Mut verloren,“ erwiderte Arga. „Aber das ist ja auch verständlich, denn so ein leidenschaftlicher Hengst könnte nicht einmal jeder kräftige Mann zähmen.“
Die junge Schöne lächelte verschmitzt und trat drei Schritte auf den Hengst zu. Vor Staunen liess Argo die Zügel fallen und der Hengst bäumte sich sofort auf. Aber der jungen Frau gelang es, die Zügel aufzufangen und zum allgemeinen Erstaunen geschah nun Folgendes: Mit ihrer linken Hand drückte die schöne Frau dem Hengst geschickt die Nüstern zu. Dann liess sie die Zügel los und streichelte mit ihrer rechten Hand die Pferdeschnauze. Und schon war der ungestüme Hengst völlig ruhig. Sie neigte seinen Kopf nach unten, zur Erde. Er leistete zwar noch geringen Widerstand, neigte sich aber trotzdem unaufhaltsam in Richtung Boden. Tiefer und tiefer. Und plötzlich kniete das Pferd vor dem Mädchen.
Ein in der Menge stehender grauhaariger Mann rief aus: „Nur alte Zauberer sind in der Lage, auf diese Art Pferde zu zähmen! Wie ist dein Name und welcher Familie gehörst du an?“
„Ich heisse Ljubomila und komme aus der Nachbarsiedlung. Zu wem ich gehöre? – Zu niemandem. Ich bin ganz einfach die Tochter meines Vaters. Da kommt er ja schon, mein strenger Vater.“
„Wann war ich zum letzten Mal streng mit dir,“ sprach dieser. „Was hast du hier schon wieder angestellt, Ljubomila?“ – „Gar nichts, Vater, ich habe mir nur erlaubt, ein wenig mit diesem jungen Hengst zu spielen.“
„Ein wenig? Ich sehe es genau, lass das Pferd los, es ist Zeit für uns, nach Hause zu fahren.“
Wie war es zu dieser ausserordentlich erfreulichen Entwicklung Ljubomila‘s gekommen?
Durch die Liebe!
Radomir war für Ljubomila der Beste, Schönste, Stärkste……!
Also wollte Ljubomila für Radomir auch die Schönste, Beste und Begehrenswerteste sein!
Vom ersten Zauberer, der ins Dorf kam, erfuhr sie, ohne es zu ahnen, die grossartige Wahrheit über die Liebe: Wenn du in Gottes Nähe sein möchtest, musst du selbst zur Göttin werden.
Von ihm erfuhr sie auch alles über die Heilwirkung und weitere Verwendung verschiedener Pflanzen.
Der zweite Zauberer, der ins Dorf kam, berichtete über die Sterne, den Mond und die Sonne und über die unsichtbaren Welten.
Der nächste zeigte ihr den Umgang mit Tieren und wie man einen widerspenstigen Hengst zähmt.
Von einem Barden, dem sie begegnete, lernte sie wunderschön singen, dichten und tanzen.
Der nächste Zauberer brachte ihr das Malen bei und wie man verschiedene bedeutungsvolle Muster in Kleidungsstücke stickt.
Und dies alles lernte sie, beflügelt von der Liebe, in weitaus kürzerer Zeit als ihre Spielgenossinnen.
Interessiert beobachtete sie auch ihre Mutter, ihren Vater, die ältere Schwester und die Oma bei ihren Arbeiten in Feld und Küche und lernte so mit leichter Hand alles in kürzester Zeit.
Die nächste Begegnung zwischen Radomir und Ljubomila ereignete sich auf einem Tanzfest für heiratswillige junge Menschen.
Im Haupttanz ging es darum, dass die Paare sich in einem Tanzreigen gegenseitig schlagfertig und in Versform Wort und Antwort gaben.
Seit Radomir diese erstaunliche junge Frau auf jenem Basar erlebt hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn. Als sie sich während dieses Gruppentanzes einmal gegenüberstanden, sang ihm Ljubomila mit frischer Stimme ins Gesicht:
„Kühn bist du, mein Junge, beredsam, gescheit.
Weisst nicht mehr, wie einst du
gewaschen mein Kleid?“
Radomir schaffte es nicht, ihr eine gebührende Antwort zu geben. Ihm wurde heiß und gleichzeitig bewusst, dass die grösste Chance seines Lebens im nächsten Augenblick unwiderruflich vergeben sein könnte. So etwas konnte er nicht zulassen. Mit einem Schritt trat er ganz dicht an sie heran und sprach mit Nachdruck eine alte wedrussische Liebeserklärung aus:
„Mit dir, o holde Göttin, könnte ich den ewigen Raum der Liebe erschaffen!“
Alle Anwesenden schwiegen. Gespannt warteten sie auf die Antwort der jungen Frau, deren feuriges Temperament und scharfe Zunge allgemein bekannt waren.
Doch diese wurde plötzlich selbst ganz schüchtern. Zuerst schaute sie mit ihren feurigen Augen nach unten, dann blickte sie wieder nach oben und flüsterte unter Tränen:
„Ich bin bereit, dir bei dieser grossartigen Schöpfung mitzuhelfen!“
In diesem Augenblick erkannte Radomir in der ungewöhnlichen jungen Frau das kleine Mädchen, dessen Kleidchen er in seiner Kindheit gewaschen hatte. Er erkannte seine Lebensbeigabe, nahm sie bei der Hand, und beide gingen los, ohne die Anwesenden zu beachten.
Die andern jungen Frauen und Männer standen schweigend in zwei Reihen einander gegenüber und verabschiedeten mit ihren Blicken die neue Liebe auf ihrem Weg in die Ewigkeit.