Von Dalaï Lama, 14. November 2018
In Tibet sagen wir, dass viele Krankheiten mit der einen Medizin der Liebe und des Mitgefühls geheilt werden können. Diese Qualitäten sind die ultimative Quelle des menschlichen Glücks, und das Bedürfnis nach ihnen liegt im Kern unseres Seins. Leider wurden Liebe und Mitgefühl zu lange aus zu vielen Bereichen sozialer Interaktion ausgeschlossen. Sie werden normalerweise auf Familie und Zuhause beschränkt, ihre Anwendung im öffentlichen Leben gilt als unrealistisch, sogar naiv. Das ist tragisch. Aus meiner Sicht ist die Praxis des Mitgefühls nicht nur ein Symptom unrealistischen Idealismus, sondern der effektivste Weg, die Interessen anderer sowie unsere eigenen am besten zu verfolgen. Je mehr wir – als Nation, als Gruppe oder als Individuen – von anderen abhängen, desto mehr liegt es in unserem eigenen Interesse, für ihr Wohlergehen zu sorgen.
Altruismus zu praktizieren ist die eigentliche Quelle von Kompromiss und Zusammenarbeit. Die bloße Erkenntnis unseres Bedürfnisses nach Harmonie reicht nicht aus. Ein Geist, der dem Mitgefühl verpflichtet ist, ist wie ein überlaufender Stausee – eine konstante Quelle von Energie, Entschlossenheit und Freundlichkeit. Das ist wie ein Samen, der, wenn er kultiviert wird, viele andere gute Eigenschaften hervorbringt, wie Vergebung, Toleranz, innere Stärke und das Vertrauen, Angst und Unsicherheit zu überwinden. Der mitfühlende Geist ist wie ein Elixier; er ist in der Lage, schlechte Situationen in nützliche zu verwandeln. Deshalb sollten wir unsere Ausdrucksformen von Liebe und Mitgefühl nicht auf unsere Familie und Freunde beschränken. Auch liegt Mitgefühl nicht nur in der Verantwortung von Geistlichen, Gesundheitsfachkräften und Sozialarbeitern. Es ist eine notwendige Angelegenheit in jedem Teil der menschlichen Gemeinschaft.
Ob ein Konflikt im Bereich Politik, Wirtschaft oder Religion liegt, ein altruistischer Ansatz ist oft das einzige Mittel, um ihn zu lösen. Manchmal sind die Konzepte, die wir zur Vermittlung eines Streits verwenden, selbst die Ursache des Problems. In solchen Momenten, wenn eine Lösung unmöglich erscheint, sollten beide Seiten die grundlegende menschliche Natur in Erinnerung rufen, die sie verbindet. Dies wird helfen, die Sackgasse zu überwinden und langfristig allen zu helfen, ihr Ziel zu erreichen. Obwohl keine Seite vollständig zufrieden sein mag, wenn beide Zugeständnisse machen, wird zumindest die Gefahr weiterer Konflikte abgewendet. Wir alle wissen, dass diese Form des Kompromisses der effektivste Weg ist, Probleme zu lösen – warum nutzen wir ihn dann nicht öfter?
Wenn ich das Fehlen von Kooperation in der menschlichen Gesellschaft betrachte, kann ich nur den Schluss ziehen, dass es aus Unwissenheit über unsere voneinander abhängige Natur resultiert. Oft bin ich von dem Beispiel kleiner Insekten wie Bienen bewegt. Die Naturgesetze bestimmen, dass Bienen zusammenarbeiten, um zu überleben. Dadurch besitzen sie einen angeborenen Sinn für soziale Verantwortung. Sie haben keine Verfassung, keine Gesetze, keine Polizei, keine Religion oder moralische Schulung, aber aufgrund ihrer Natur arbeiten sie treu zusammen. Gelegentlich mögen sie kämpfen, aber im Allgemeinen überlebt die gesamte Kolonie auf der Grundlage von Zusammenarbeit.
Nur ein spontanes Gefühl von Empathie kann uns wirklich dazu motivieren, anderen zu helfen.
Menschen hingegen haben Verfassungen, umfangreiche Rechtssysteme und Polizeikräfte; wir haben Religion, bemerkenswerte Intelligenz und ein Herz mit großer Liebesfähigkeit. Trotz unserer vielen außergewöhnlichen Eigenschaften hinken wir in der tatsächlichen Praxis diesen kleinen Insekten hinterher. In gewisser Weise fühle ich, dass wir ärmer sind als die Bienen.
Beispielsweise leben Millionen von Menschen in großen Städten auf der ganzen Welt zusammen, aber trotz dieser Nähe fühlen sich viele einsam. Einige haben nicht einmal einen Menschen, mit dem sie ihre tiefsten Gefühle teilen können, und leben in einem Zustand ständiger Unruhe. Das ist sehr traurig. Wir sind keine einzelgängerischen Tiere, die sich nur zum Zwecke der Fortpflanzung zusammenschließen. Warum sollten wir sonst große Städte und Gemeinden bauen? Aber obwohl wir soziale Tiere sind, die dazu gezwungen sind, zusammenzuleben, fehlt uns leider ein Gefühl der Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen. Liegt der Fehler in unserer sozialen Architektur – den grundlegenden Strukturen von Familie und Gemeinschaft, die unsere Gesellschaft unterstützen? Liegt es an unseren äußeren Einrichtungen – unseren Maschinen, Wissenschaft und Technologie? Ich glaube nicht.
Ich glaube, dass trotz der raschen Fortschritte der Zivilisation in diesem Jahrhundert die unmittelbare Ursache unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten in unserer übermäßigen Betonung allein auf materielle Entwicklung liegt. Wir sind so sehr in ihrer Verfolgung vertieft, dass wir unbewusst die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse nach Liebe, Freundlichkeit, Zusammenarbeit und Fürsorge vernachlässigt haben. Wenn wir jemanden nicht kennen oder einen anderen Grund haben, um uns nicht mit einer bestimmten Person oder Gruppe verbunden zu fühlen, ignorieren wir sie einfach. Aber die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft basiert vollständig darauf, dass Menschen einander helfen. Sobald wir die wesentliche Menschlichkeit verloren haben, die unser Fundament ist, was ist dann der Sinn, nur nach materieller Verbesserung zu streben?
Für mich ist es klar: Ein echtes Gefühl der Verantwortung kann nur entstehen, wenn wir Mitgefühl entwickeln. Nur ein spontanes Gefühl von Empathie für andere kann uns wirklich dazu motivieren, in ihrem Sinne zu handeln.
Quelle: https://www.dalailama.com/messages/world-peace/the-medicine-of-altruism
